Stimmungsmache im postfaktischen Zeitalter

von Sabine Stadler.

Je unübersichtlicher uns die Welt erscheint, desto eher sehnen wir uns nach einfachen Lösungen. In Zeiten zunehmender Digitalisierung sind wir permanent einer unüberschaubaren Informationsflut ausgesetzt. Gleichzeitig kann man beobachten, wie immer mehr Menschen schon vollauf beschäftigt sind, mit den beschleunigten Abläufen Schritt zu halten. Da werden Zeitvertreibe wie Nachdenken oder Zusammenhänge in komplexen Themen zu finden zunehmend unpopulär. Aufräumen macht Arbeit, da ist es schön, wenn andere sie machen. Wunderbare Bedingungen für Stimmungsmacher.

Wenn von Stimmung die Rede ist, hat jeder von uns eine Vorstellung, was gemeint sein könnte. Man ist vielleicht gerade nicht in Stimmung oder guter Stimmung im Sinne von Laune. Man kann Menschen auch einteilen in Optimisten oder Pessimisten, je nachdem, wie sie grundsätzlich gestimmt sind, nämlich positiv oder negativ. Oder man denkt an das letzte Rock-Konzert, wo die Stimmung bombastisch war oder an ein Fußballspiel, wo die Mannschaft leider schlecht gespielt hat und einem die Stimmung verhagelt hat. Stimmung hat natürlich immer auch was mit Gefühl zu tun, wobei eine Unterscheidung eine Rolle spielt: Gefühle entstehen immer in uns selbst, während Stimmungen auch quasi von außen erzeugt oder beeinflusst werden können.

Und um die geht es uns heute, denn wir haben immer wieder mit problematischen Situationen zu tun, die auf Stimmungen beruhen, die man plötzlich und unvermittelt wahrnimmt, aber nicht erklären kann, wie sie zustande gekommen sind. Man findet sie in allen Bereichen: im Privaten, im Berufsleben und auch in der Politik.

3 Beispiele, die wir bei der Lösung begleitet haben:

1. Lena M., Lehrerin und Mutter von erwachsenen Kindern, lässt sich von ihrem Mann scheiden und wechselt Stelle und Wohnort. Ein paar Jahre später kommt sie zurück und wundert sich: Niemand aus ihrem früheren Umfeld (Kinder, Freunde, Bekannte) will etwas mit ihr zu tun haben. Sie nimmt Abneigung wahr und kann sie sich nicht erklären, denn sie hat sich ja – außer dass sie ihren Mann verlassen hat – nichts zuschulden kommen lassen.

2. Thomas P., Vertriebsbeauftragter in einer mittelständischen Software-Firma, kommt mit dem Vertrieb einer neuen Datenbank-Lösung nicht voran. Von der Entwicklerseite kommt nur spärlich fachliche Unterstützung, er fühlt sich ziemlich allein gelassen. Der Investor, der in die Programmierung viel Geld gesteckt hat, gibt die Anweisung, unterschiedliche Vertriebswege auszuprobieren. Es funktioniert weiterhin nicht, der Entwickler macht den Vertriebsbeauftragten für den Misserfolg verantwortlich, der Investor stoppt die Unterstützung für den Vertrieb.

3. Eine Kleinstadt in Deutschland. Die Stadt wächst, es muss neuer Wohnraum geschaffen werden. Ein Baugebiet, das vor Jahren als Einheimischen-Modell entstanden ist, soll erweitert werden. Es wird eine Bürgerinitiative gegen die Erweiterung gegründet. Die Regionalredaktion der überregionalen Presse springt auf das Thema auf und hilft, Unterstützer zu finden und Fronten zu bilden. Die Stadtverwaltung wird von den unterschiedlichsten Interessengruppen angegriffen. Der Bürgermeister versteht die Welt nicht mehr.

Während unserer strukturierten Analysearbeit haben wir identifiziert, dass jedes Mal nach einem bestimmten Muster vorgegangen wurde: Es wurden jeweils Prozesse in Gang gesetzt, die so schleichend verliefen, dass sie für die Beteiligten nahezu nicht wahrnehmbar waren. Diese Prozesse sollten entweder eine Eigendynamik entwickeln oder wurden regelmäßig “nachbefeuert”. Wenn Zahlen oder Fakten genannt wurden, waren diese oft falsch. Nachgewiesene Fakten von Zweiflern wurden ignoriert oder geleugnet. Eher spielten Gefühle eine Rolle: Es sollte ein “kollektives Gefühl” gegen jemanden aufgebaut werden. Und am Anfang stand jeweils eine Person, die Stimmung gemacht hat, aber nicht laut und deutlich vernehmbar, sondern unterschwellig und perfide. Den Rest erledigten andere Akteure, die selbst gar nicht mitbekommen hatten, wie sie instrumentalisiert worden waren.

Im Fall von Lena M. ihr Ex-Ehemann: Da sie ja weggezogen war, hatte er das alte Umfeld für sich und fütterte dieses mit kleinen, zum großen Teil erlogenen Informationshäppchen über seine Ehe mit Lena M., ihre “Verfehlungen”, inszenierte sich selbst als Opfer, fing an, die (erwachsenen!) Kinder zu verwöhnen, um die er sich früher nie gekümmert hatte, und ihre Mutter schlecht zu machen. Lena M. ahnte davon nichts, ihre Kinder fragten nicht nach, sie hatte nach Scheidung, Umzug und neuer Stelle genug um die Ohren und die Entfremdung nahm ihren Lauf. Die stimmungsmäßig negativ gegen Lena M. beeinflussten Menschen gaben ihr überhaupt keine Chance, sie wollten gar nicht hören, was sie dazu zu sagen gehabt hätte. Dank der “überzeugenden” Stimmungsmache des Exmannes waren die Urteile ja schon gefällt.

Im Fall von Thomas P. stellte sich heraus, dass der Entwickler der Datenbanklösung von seinem eigenen Produkt nicht überzeugt war bzw. zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Software besser nicht verkauft und eingesetzt werden sollte. Er hatte sich vom Investor für die Entwicklung gut bezahlen lassen und konnte dann “natürlich” nicht zugeben, dass die Ursache für die Nicht-Verkaufbarkeit bei ihm lag. Stattdessen schob er gegenüber dem Investor die Schuld auf Thomas P., der eben nicht in der Lage wäre, seine Software zu verkaufen. Dem Investor fehlte die entsprechende Sachkenntnis, so dass er die Angelegenheit nicht weiter prüfte, sondern sich auf Thomas P. einschoss.

Im Fall der deutschen Kleinstadt kam ans Licht, dass ein Mitglied des Stadtrats, selbst Nutznießer des damaligen Einheimischen-Modells und offenbar nicht erpicht auf neue Nachbarn, die Bürgerinitiative angeschoben hat. Mit der Lieferung von Fake-News, angeblichem Insider-Wissen aus dem Stadtrat und der Erfindung diverser Kollateralschäden auf faktischer und moralischer Ebene gelang es ihm, sowohl die Presse als auch zahlreiche Mitstreiter anzuheizen, die dann empörte Leserbriefe mit immer neuen Argumenten gegen das Neubaugebiet schrieben, in Facebook wüste Verbalschlachten kämpften und Befürworter und die Stadtverwaltung mit Vorwürfen überzogen.

Solche Situationen kann man kaum alleine aufarbeiten. Die Gefahr ist hoch, dass man “naheliegende” Gründe auf der Basis alter Erfahrungen wählt und dann die falschen Leute angreift. Eine Analyse ist viel erfolgreicher, wenn ein klares methodisches Vorgehen dahintersteht, das kompromisslos auseinandernimmt und ordnet und von einem erfahrenen Moderator geleitet wird, der jederzeit in der Lage ist, das große Ganze im Blick zu behalten und die “richtigen” Fragen zu stellen und vor allem selbst nicht in den Fall involviert ist. Denn erst wenn der tatsächliche Gegner identifiziert und seine “Hidden Agenda” entlarvt sind, lässt sich eine sinnvolle Lösungsstrategie entwickeln.

Doch warum funktioniert Stimmungsmache eigentlich so gut? Schließlich müssen ja möglichst viele Menschen “mitmachen”. Wir denken, es sind Gründe wie beispielsweise: Menschen glauben gerne, was ihnen “in den Kram passt” (eigenes Ziel oder Bedürfnis, Ängste, Sorgen etc.) oder plausibel erscheint. Menschen nutzen auch gerne Sachverhalte, bei denen sie sich “aufregen” können, quasi als Proxy für eigene Probleme, die sie nicht lösen können. Kritisches Hinterfragen, Nachforschungen anstellen oder gar Aufklärung sind aufwändig und unbequem und erfordern vielleicht auch Mut. Wer zu einem neuen Thema oder einer nicht näher bekannten Person eine Bewertung, ein Urteil abgibt, hat die besten Karten. Er besetzt den freien Platz und schafft damit eine Grundlage, an der sich alle weiteren Bewertungen orientieren. In vielen Fällen wird man Bestätigungen finden, schon aus dem einfachen Grund, weil Zustimmung weniger anstrengend ist als fundierter Widerspruch. Und schlicht und ergreifend: Viele Menschen haben so viel um die Ohren, dass es meistens an der Zeit fehlt, jede neu ankommende Information auf ihren Wahrheitsgehalt oder ihre Sinnhaftigkeit hin zu prüfen.

Einen schönen Nebeneffekt haben wir auch noch beobachtet:

Es war faszinierend mitanzusehen, wie unsere Kunden ihre Selbstzweifel überwanden, die sie durch die Stimmungsmache aufgebaut hatten. Und welche Kreativität sie entwickelt haben, nachdem wir die Probleme auseinandergenommen und die Einzelaspekte geordnet hatten und sie verstanden, was da eigentlich läuft, woher die schädliche Stimmung kam und wer alles in den Strudel mit hineingezogen wurde.