von Sabine Stadler.
Erst kürzlich haben die Krankenkassen Alarm geschlagen, dass die psychischen Erkrankungen von Arbeitnehmern dramatisch zunehmen. Seit etwa 20 Jahren weiß man, dass sich die Arbeitswelt in einem Änderungsprozess befindet. Man kann den Wandel sogar detailliert beschreiben. Auch nicht neu: Verhaltensauffälligkeiten von Kindern nehmen kontinuierlich zu. In den letzten Jahren dazugekommen: Die Bologna-Reform war gut gedacht, hat aber unerwünschte Nebenwirkungen hervorgebracht. Eltern sind unermüdlich auf der Suche nach “Angeboten” für ihre Kinder, um sie – ja, wofür eigentlich? – fit zu machen.
Wenn wir unsere Kinder in 20 oder 30 Jahren fragen, wie sie ihre Kindheit erlebt haben, werden sie uns möglicherweise erstaunt ansehen: Welche Kindheit? – Meint ihr die paar Jahre, bevor der “Ernst des Lebens” begann? Dieser Zeitpunkt ist nicht genau datierbar, für manche endete der unbeschwerte Teil ihrer Kindheit mit Beginn der Grundschule oder auch des bilingualen Kindergartens, spätestens aber mit Eintritt in eine weiterführende Schule.
Erwachsene, die ihre Kindheit in den 60er oder 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verbrachten, hatten vor allem: Zeit und Raum. Ihre Eltern waren vorzugsweise mit eigenen Dingen beschäftigt, materieller Reichtum war selten im Überfluss vorhanden und Kinder waren einfach nur Kinder. Und die sollten sich nach Möglichkeit selbst beschäftigen und ansonsten pünktlich zum Essen zu Hause sein. Schule spielte keine so große Rolle, lediglich “Sitzenbleiben” war zu vermeiden, aber irgendwie war immer klar, dass aus jedem etwas werden würde. Und dies traf auch für die meisten zu. Die Kinder verbrachten ihre Zeit mit Gleichaltrigen, mussten ihre Freizeit selbst organisieren und gestalten, hatten Plätze in der Natur, an denen selten Erwachsene auftauchten, konnten vieles ausprobieren, selber machen und Erfahrungen sammeln. Das funktionierte in der Regel sehr gut und ganz nebenbei erwarben sie wertvolle Kenntnisse: Sie lernten, die unterschiedlichsten Themen anzugehen, Strukturen zu schaffen, Über- und Unterordnungen zu bilden, Konflikte zu lösen, Prioritäten zu setzen, ohne dass ihnen dies aufgetragen oder vermittelt worden wäre. Natürlich und systemisch. Von Kompetenzen sprach damals noch niemand, aber die jungen Menschen waren fit fürs Leben.
Heute machen sich unzählige Menschen im Einzelnen und zahlreiche Institutionen Gedanken, wie die Kinder von heute zu sein haben und was sie an Kompetenzen brauchen, um das Leben von morgen erfolgreich zu bestehen. Interessanterweise sind das oft Menschen, die eine “förderliche” Kindheit erlebt haben. Warum? Haben die starken Eltern von heute so wenig Vertrauen in ihre Kinder oder so viel Angst vor der Zukunft, dass sie glauben, Kinder würden nur erfolgreich, wenn man sie bzw. die wichtigen Kinderjahre nur energisch genug (ver-)plante? Manchmal erinnern die Erwachsenen auch ein bisschen an Ärzte: Sie diagnostizieren ständig Dinge, die nicht in Ordnung sind, stellen jede Menge Symptome fest, an denen “das System” krankt, und tun was? Geben gute Ratschläge, verabreichen Medizin (gerne auch homöopathisch für das bessere Gefühl), verbinden Wunden und suchen Schuldige bzw. die Ursachen woanders. Sie vergessen dabei allerdings, dass sie Teil des Systems sind, das sie ständig kritisieren, und zwar maßgeblich.
Was also könnte man tun? Gibt es eigentlich niemanden, der sich die Frage stellt, was man grundsätzlich ändern könnte? Doch, die gibt es: Eltern, die ihre Kinder “machen lassen”. Die sie nicht in ein Korsett zwängen aus eigenen Wünschen und fremden Zielen. Die sich freuen zu sehen, wie sich ihre Kinder aus eigenem Antrieb entwickeln, welche Talente sie entfalten und wie sie sich die Welt erschließen. Die den Kindern die Möglichkeit geben, ihre eigenen Erfahrungen – auch negative – zu machen. Die Vertrauen haben in ihre Kinder und unterstützen oder eingreifen, wenn Bedarf besteht, statt alles vorher festzulegen. Meist sind das sehr unaufgeregte und gelassene Eltern (nicht zu verwechseln mit laisser-faire), die sich – oft ohne dass ihnen das bewusst ist – selber natürlich und systemisch verhalten. Die ihren Kindern genau dieses vorleben und sie von Anfang an in viele ihrer Aktivitäten einbeziehen. Das kann ein Besuch im Deutschen Museum sein, wo sich Väter und Kinder vorher überlegen, was sie konkret anschauen wollen, eventuelle offen gebliebene Fragen zu Hause klären und als Abschluss den Müttern den modernen Tunnelbau erklären. Man kann Kinder Rad- oder Bergtouren planen lassen und im Urlaub dem in Erwartung langweiliger Besichtigungen üblichen Gemaule vorbeugen, indem man auch sie zu ihren Wünschen und Interessen befragt und diese dann auch ernst nimmt und umsetzt. Kinder, die mitwirken dürfen, lernen nicht nur, sondern erfahren auch ein natürliches Gefühl für Wertschätzung und Selbstwirksamkeit, das wiederum die Basis für weitere Ideen, Motivation und Ausdauer ist.
Auch in den Schulen gibt es inzwischen viele Ansätze für Lernen in Systemen, oft in Projektform und auch fächerübergreifend. Auch wenn manche Lehrer den Sinn noch nicht erkannt haben und lieber ihren persönlichen Arbeitseinsatz beklagen, der in der Anfangszeit vor und nach Einführung solcher Projektarbeit zweifellos vorhanden ist. Der Weg ist aber auf jeden Fall zu begrüßen. Oft entstehen im Laufe der Projekte Initiativen oder sogar Schülerfirmen, die erfolgreich sind und auch nach Abschluss des Projekts weitergeführt werden. Auch hat man sich in manchen Schulen auf die Erkenntnis besonnen, dass das, was man selber erfahren, durchdacht oder erarbeitet hat, am besten im Gedächtnis verankert wird. “Selbst organisiertes Lernen” ist das Stichwort, das – auch – wieder dorthin zurückführt, von wo viele ein bisschen abgekommen zu sein scheinen: selber zu denken, zu überlegen, wer sie eigentlich sind und was sie wollen. Sich Ziele zu überlegen, die zu ihnen passen und schauen, wie sie sie erreichen können. Nicht immer nur zu konsumieren und zu kritisieren oder zu erwarten, dass man ihnen Angebote macht, die sie nur anzunehmen oder abzulehnen brauchen. Agieren statt reagieren – und das geht systemisch definitiv angenehmer!